Gemeinschaftstheorie… In der Praxis. 3


In den letzten beiden Beiträgen habe ich einen Gedanken entwickelt, der in der Notwendigkeit von Kriterien mündet, die eine Gemeinschaft braucht. Ich habe geschrieben:

Ich sage und schreibe oft, dass ich wichtig finde, dass Sieben Linden was „Besonderes“ bleibt. Dass ich Sorge habe, es könnte irgendwann eine reine Siedlung sein. Da ist der Einwand richtig, dass es nicht gerade ein hartes Kriterium ist, etwas „Besonderes“ zu bleiben. Woran sollen wir das festmachen, dass wir was Besonderes sind? Klarere Kriterien müssen her. Was will ich für ein Sieben Linden in 20, 30 Jahren?

In diesem Satz hört sich das total einleuchtend an, und deswegen habe ich dann dazu „aufgerufen“, Kriterien zu nennen.

Möglichst genau formuliert und definiert; ich stelle mir ein Treffen vor, zu dem die Mitglieder einer beliebigen Gemeinschaftsgruppe (oder eben der Siebenlindener Gemeinschaft) in einem großen Kreis zusammenkommen und bei den Kriterien, die für sie jeweils auch wichtig sind, in die Mitte gehen. Je wichtiger das Kriterium für sie, desto weiter in die Mitte.

Das habe ich dann versucht, als wir letzte Woche Intensivzeit hatten und es ein Zeitfenster für selbst gestaltete inhaltliche Arbeit gab. Da dachte ich mir: Dann lasst uns doch diese Kriterien sammeln! Wenn wir die gesammelt und gewichtet hätten, dann wüssten wir besser, wer wir sind und woran wir genau arbeiten müssen.

Das hatte ich mir nicht gut überlegt. Und mein Vormittag dazu ist richtiggehend gescheitert. Es ist ganz offenbar eine Sache, hier im Blog schöne Gedanken zu entwickeln, und eine ganz andere, sie anderen vermitteln zu wollen.

Dabei kommt dann erstens heraus, wo der „schöne“ Gedanke letztlich gar nicht funktioniert. Und zweitens, wo andere einfach ganz andere Arten zu denken haben und außerdem einen berechtigten Widerstand, sich meinen Gedankenstrumpf einfach anzuziehen. Nebenbei bemerkt: Schon interessant, dass es Leute gibt -Gurus, spirituelle Lehrer*innen usw.-, deren Gedanken von anderen einfach aufgegriffen und zitiert werden und die damit eine ganze Bewegung hinter sich versammeln. Ein Trick könnte sein, nicht zu konkret zu werden – oder aber mit großem Charisma so kompliziert daherzubrabbeln, dass die Anhänger gar nicht kapieren, was ihr*e Führer*in da von sich gibt.
Aber ich will ja gar kein Guru sein und so ein Scheitern kann ja einen guten Lerneffekt haben. Und deswegen greife ich das Thema hier auch nochmal auf. Obacht – es wird verschachtelt und kompliziert; es gibt keinen einfachen Grund, wenn eine zumindest interessante Idee nicht funktioniert. Niemand muss sich das Folgende durchlesen!

Was ist passiert am letzten Freitag? Ich hatte vor,

  1. die große Gruppe zu einem kleinen Brainstorming einzuladen – „wie wird die Welt in 20, 30 Jahren sein – werft mir Stichworte in die Mitte!“. Diese Stichworte hätte ich auf einer Flipchart gesammelt. Dieser Punkt wurde gestrichen, weil ich nach einer Umstellung des Programms auf einmal keinen ganzen Vormittag, sondern nur noch 90 min für das Ganze Zeit hatte.
  2. Dann sollte sich jede*r 10 Minuten lang überlegen, wie er/sie leben will – und zwar sowohl jetzt in der Gegenwart als auch, wenn wir den ersten Punkt tatsächlich gemacht hätten, in der skizzierten Zukunft).
    Was ist dir wichtig? Und was hat das mit dem Sieben Linden zu tun, in dem du leben willst?
    Das haben wir gemacht, hier ist mir aber der Fehler A unterlaufen: Die Formulierung „Wie willst du leben?“ ist zweideutig; sie kann sich darauf beziehen, was dir in deinem Leben wichtig ist, also „Wie willst du leben und lebst deshalb auch so“; so habe ich es auch gemeint. Sie kann aber auch heißen: „Wie wünschst du dir das Leben, was sind deine Ideale.“ So haben fast alle Siebenlindener*innen es verstanden.
  3. Dann sollten wir aus dem Aufgeschriebenen die Kriterien formen. Wieder sammeln per Flipchart. Hier sind die nächsten Fehler passiert:
    1. Fehler B: Während die anderen geschrieben haben, habe ich auf die Flipcharts schonmal die drei Kriterien aufgeschrieben, die ich für mich formuliert hatte. Siehe letzter Beitrag: Selbstverwaltung, Transparenz, Nachhaltigkeit. Das hatte den Nachteil, dass die Leute automatisch dachten, sie müssten ihre Kriterien irgendwie meinen drei Punkten unterordnen.
    2. Fehler C: Was die Leute notiert hatten, war meist überhaupt nicht der Begriff eines Kriteriums, sondern zum Beispiel „Herausfinden, was das Richtige ist“. Das sollte ich dann auf Wunsch der Person, die das genannt hat, unter „Nachhaltigkeit“ schreiben (siehe Fehler B). Die Person, die das geschrieben hatte, hatte nichts falsch gemacht; sie hat genannt, „was  ihr wichtig“ ist. Aber: Das passt überhaupt nicht gut zu der Art der Kriterien, die ich zur späteren Abfrage bräuchte. Das habe ich natürlich gemerkt und wollte es erst nicht auf die Flipchart schreiben – aber mit Stift in der Hand zu diskutieren, ob ein Beitrag richtig oder falsch ist, ist tödlich für eine*n Moderator*in. Das hätte ich mir mal früher überlegen müssen. Da gab es Widerstand, der meine Unsicherheit massiv befördert hat, was weiteren Widerstand oder zumindest Unruhe bewirkte – eine Feedbackschleife, die der Gruppe und der Gruppenleitung gar nicht gut tut. Ich denke jetzt: Wenn wir Punkt vier (s.u.) fest eingeplant hätten, dann hätte das Ganze noch klappen können, aber dann hätten wir nicht per Flipchart sammeln dürfen. Statt dass jede*r zehn Minuten lang Romane schreibt und dann nicht die Gelegenheit dazu hat, alles auf der Flipchart zu sammeln, hätten wir auf Kärtchen schreiben sollen, was uns jeweils wichtig ist. Dann hätten wir diese Kärtchen danach alle auslegen, zusammenfassen und die entstandenen Themengruppen in Kleingruppen bearbeiten können.
    3. Fehler D war nämlich, dass so noch nicht mal jede*r alles sagen konnte, was er/sich in den zehn Minuten ausgedacht hatte. Im Prinzip endet an dieser Stelle das, was ich angeleitet hatte. Für mich war es an dieser Stelle gescheitert und ich sah auch keinen Sinn darin, weiterzumachen. Der Vollständigkeit noch, was ich mir, wenn die ganzen Fehler nicht passiert wären und wir genug Zeit gehabt hätten (wenigstens ein Umstand, mit dem ich nichts zu tun hatte), für den weiteren Verlauf überlegt hatte:
  4. Als Nächstes hätte ich Kleingruppen gebildet, die die einzelnen Kriterien bzw. Überschriften ordnen und klare Formulierungen dafür suchen. Wie bringt man die verschiedenen Beiträge zum Wunsch nach einem ökologischen Leben zu einem sinnvollen Punkt zusammen, mit einer Definition, die das wirklich Wesentliche daran zusammenfasst. So weit ist es nicht gekommen und auch hier wäre es schwierig gewesen, diese „Definition des Wesentlichen“ zu finden. Vielleicht ist das einfach eine ganz persönliche Sache…?
  5. Wenn wir dann eine vernünftige Anzahl von Kriterien gehabt hätten, hätten wir die, wie oben beschrieben, gewichten können.

Wir haben zwar, so lange ich noch dabei war, drei Flipcharts vollgeschrieben, aber was da am Ende stand, waren gar nicht die nötigen Kriterienbegriffe, sondern eine ziemlich pralle Beschreibung unserer Wünsche für unsere Gemeinschaft. Ich hatte ja was ganz anderes vor, ich wollte, dass wir in uns gucken, was uns wirklich wichtig ist. Dass jemand z.B. anerkennt, dass Rückzug oder Fernsehschauen oder Kommunikation über Internet wichtige Bedürfnisse für sie oder ihn sind, und das dann mit den Kriterien unter einen Hut bringt, die für Sieben Linden formuliert werden könnten. Ich bin immer noch ein bisschen verblüfft, dass meine Theorie, wie solche Kriterien entwickelt werden könnten, und der Versuch der praktischen Umsetzung so weit auseinanderlagen. Am Freitag hatte ich dann nach einigem Sammeln verkündet, dass ich mir jetzt rausziehe, weil mein Versuch gescheitert sei. Ich weiß noch, wie ich mir davor dachte, dass es auf jeden Fall sinnvoll sein würde, wenn ich diesen Raum eröffne, in dem wir einfach mal über das Thema sprechen können – aber jetzt denke ich eher, dass ich ein Thema verheizt habe und das wir doch lieber mit Redestab, Fishbowl oder Forum einen Austausch darüber hätten machen sollen.
Ein paar Unerschrockene fanden dann noch sinnvoll, wenn jede*r Anwesende die Sachen, die es (ein bisschen willkürlich) auf die Flipchart geschafft hatten, mit Punkten bewertet – dafür bekam jede*r 9 Klebepunkte und durfte die verteilen. Hier die Fotos der Flipcharts mit der Punktebewertung.

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Damit lasse ich es mal gut sein, ich bin jetzt ganz durcheinander. Und das Leben in Sieben Linden geht ganz praktisch weiter. Inzwischen sind ja auch schon wieder ein paar Wochen als Geschäftsführer vergangen, und ich scheine in diesen Job reinzuwachsen – merke, wie ich mich mit der Arbeit mehr identifiziere und mir mehr Zeit dafür nehme. Außerdem zeichnet sich ab, dass ich doch noch einen Kollegen für die Stelle bekomme und wir uns ab November die Geschäftsführungsstelle teilen. Und zu Kriterien fällt mir bestimmt bald wieder was Neues Schlaues ein.

Ach so, eins noch: Wir haben in unserer Gemeinschaft ja auch das genannte Thema mit den Regeln; darüber gehört die Überschrift: „Was müssen wir überhaupt regeln?“ Ich hatte die Hoffnung, diese Frage besser beantworten zu können, wenn diese Kriterienübung gemacht wurde. Jetzt müssen wir das anders klären…


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3 Gedanken zu “Gemeinschaftstheorie… In der Praxis.

  • Uwe Kurzbein

    Also, wenn es für Dich gescheitert ist, solltest Du dankbar sein.Regeln in solch einem selbstbestimmten Umfeld lassen sich sowieso nicht durchsetzen. Zu Regelverletzungen gehören auch Sanktionen. Wer also soll in einem hierarchiefreien Raum bestimmen, wer die Regeln einhält und wer niciht. Wenn wir keinen Richter haben, dann gibt es auch kein Rechthaben und kein Nichtrechthaben. Der Bergriff gehört hier eigentlich gestrichen. Das ist natürlich gewöhnungsbedürftig. Besser wären Vereinbarungen die unterschiedlich zwischen unterschiedlichen Menschen getroffen werden. Wenn ich meine, daß der oder diejenige die Vereinbarungen nicht einhält, dann mache ich in Zukunft keine Vereinbarungen mehr.
    Wie in dem Dorf gelebt werden wird, in 20 oder 30 Jahren, müssen die Leute selbst bestimmen. Das läßt sich glücklicherweise nicht mit Regeln vorausbestimmen.Loslassen ist die Übung, Aber jetzt hast Du Dir ja ers teinmal eine Leitungsfunktion angelacht. Die Genossenschaft ist voll von bürgerlichen Strukturelementen. Ich meine, über die Zukunft brauchst Du nicht besorgt zu sein. In diesem Sinne, hol di fuchti Uwe vom Olgashof

  • Mariam

    Schade. – Was mir dazu einfällt: die Schwierigkeit Dinge klar zu kommunizieren. Vielleicht hätten klare Beispiele geholfen, oder das ganze Szenario im Vorfeld mit einer „Testperson“ oder zweien mal an einem Nachmittag gemeinsam durchgespielt. – Etwas aufwendig, schon. Aber ist im Grunde wie das Vorbereiten einer Unterrichtsstunde in der Schule, man überlegt sich die Unterrichtsziele und wie man das der Gruppe am besten nahe bringen kann, so dass sie begeistert bei der Sache sind und die Aufgabe auch so verstehen wie ich sie meine. Viel Glück fürs nächste Mal!